"Echt Wienerisch" - von Ernestine Stadler

Erzählt wird in diesem Buch von Leuten und ihren Läden – und von ihrem Leben in der Lücke. Da passt sowohl das Motto »Small is beautiful« als auch »Es gibt sie noch, die guten alten Dinge«. Ernestine Stadler mit ihren einfühlsamen Texten und Frank Taubenheim mit seinen atmosphärisch dichten Fotos wenden sich mit einer gelungenen Auswahl an typisch Wienerischem an die Bewohner der Stadt ebenso wie an die Wien-Besucher. Angesprochen werden alle globalisierungskritischen Menschen, die Inseln der Individualität zu schätzen wissen."

Die Kunst des Löcherstopfen

(Textauszug)

"... Die Predigergasse ist dunkel und eng. Ein paar Farbtupfer aber fallen ins Auge: die großen bunten Zwirnrollen, die über den halbhohen Vorhängen der "Spezial-Kunststopferei  Änderungsschneiderei Pavlovsky hervorlugen. 

 

Die Kunden werden in einem länglichen Vorraum empfangen, einem Zimmer mit einer hellblau-grau gemusterten Tapete, einem blau glänzenden Vorhang, von der Decke scheinendem Neonlicht und einem Ladentisch aus den fünfziger Jahren, an dem eine gewellte Ablage aus Metall für Schirme angebracht ist. Dahinter steht die Tochter des Hauses, Sylvia Dostal, die mit ihrem ebenso resoluten wie sachkundigen Auftreten dafür sorgt, dass die Kunden ihrer Reparaturstücke sogleich in kompetenten Händen wähnen.

Sylvia Dostal demonstriert die notwendige Fingerfertigkeit des Kunststopfens anhand einer rotgrün karierten Golfhose. Ihr Besitzer ist damit an einem Stacheldrahtzaun hängen geblieben, der die Sitzfläche der Hose der Länge nach aufriss. In diesem Fall sei das Einsetzen eines ganzen Stückes nötig, erklärt Frau Dostal. "Wir haben das notwendige Stoffteil aus dem Saum am Hosenbein entnommen. Dieses herausgetrennte, etwa vier Quadratzentimeter große Stoffteilchen wird ausgefranst und dann mit dem Originalstoff um die beschädigte Stelle herum Faden für Faden per Hand verwoben. Das Risiko bei der Reparatur dieser Hose besteht darin, dass entweder das eingesetzte Stoffteil verzogen ist oder das Karomuster nicht hundertprozentig passt." Wenn irgendetwas nicht genau stimmt, muss die ganze Prozedur wiederholt werden.

"Diese Methode ist am aufwändigsten. Das Resultat ist abhängig von der Webart, der Farbe und der Struktur des Stoffes. Aber in der Regel ist der ursprüngliche Schaden nach unserer Reparatur und dem Einbügeln fast nicht mehr zu sehen." Bei gröberem Leinen und kleineren Löchern wird anders vorangegangen: Einzelne Fäden werden aus dem Gewebe entnommen und über dem Loch mit den Rändern verwoben. Nur Samt und Leder können nicht repariert werden. Die Kunststopferinnen tragen vielfach vergrößernde Lupenbrillen. Wie ein Chirurg operiert jede von ihnen das vor ihr liegende Kleidungsstück. "Meine Damen haben langjährige Erfahrung im Umgang mit Nadel und Nähmaschine und sind Improvisationskünstlerinnen", schwärmt Sylvia Dostal von ihren Mitarbeiterinnen, Melanja, Eva, Helga und Silja. Sie selbst kam 1977 über Rosa Weigner, eine Tante ihres Vaters Wilhelm Pavlovsky, zum Gewerbe des Kunststopfens. Neben der zentralen Werkstatt in der Predigergasse gibt es in Wien noch drei weitere Filialen. 

Einen großen Teil ihres Geschäftsumsatzes verdankt Sylvia Dostal den Motten. "Besonders im Herbst und Winter haben wir viel mit der Behebung von Mottenschäden zu tun. Zu dieser Zeit sind 

die besonders aktiv. Sie fressen richtige Straßen in die Stoffe. " Die Reparatur von Strickwaren, aus denen Katzen mit ihren Krallen Fäden herausgezogen haben, ist für die Pavlovsky-Damen eine leichte Übung. "Wir ziehen die Fäden halt wieder ein", sagt Silja. Auch die Ballsaison beschert dem Hause Pavlovsky stets ein gutes Geschäft: Damen bleiben beim Tanzen mit ihren Absätzen am Abendkleid hängen, Herren kommen mit Zigarettenlöchern in ihren Smokings in die Werkstatt. "Gestern", erzählt die Chefin, "hat mir eine Mutter den ziemlich zerfetzten Skianzug ihres Sohnes gebracht. Die Risse haben wir einfach doppelt genäht, das sah dann so aus, als wären es Ziernähte, die dorthin gehören." 

Kunststopfen wird an keiner Berufsschule gelehrt, daher gibt es bei Pavlovsky auch keine Lehrlinge. Bleibt zu hoffen, dass die Damen ihre Fertigkeiten trotzdem weitergeben. Weil es immer weniger Kunststopfereien gibt, bekommt Sylvia Dostal viele "Sorgenkinder" auch per Post zugeschickt. Alle Aufträge werden bei Pavlovsky prompt erledigt, kein Kunde muss länger als zehn bis vierzehn Tage auf eine Reparatur oder Änderung warten. ..."